Ein Tappen im Dunkeln mit Lichthöfen
Thomas Melle schreibt in seinem autobiografischen Roman Die Welt im Rücken schonungslos ehrlich und berührend über seine manisch-depressive Erkrankung. Nach 2011 und 2014 stand der Rowohlt-Autor nun zum dritten Mal auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis – zweimal auf der Shortlist und im Frankfurter Römer. Kürzlich erschien die 4. Auflage.
Eine Rezension von Johann Kneißl
Thomas Melle ist ein Meister der Erzählkunst. Nach seinen beiden nominierten Romanen Sickster (2011) und 3000 Euro (2014) berichtet er im neuen und dritten Roman Die Welt im Rücken über seine „drei Großmanien“ und anschließenden Abstürze in die Minussymptomatik, die Depression. Sein Krankheitsschübe sind „Touren durch den Abgrund“, das Buch ein um „Wahrhaftigkeit und Konkretion“ angelegter Versuch, das Entstehen und Erleben seiner „mörderischen“ Erkrankung aus der Erinnerung nachzuspüren – auch dem „Krankheitsmuster“ auf die Spur zu kommen und die Erkrankung zu bannen. „Die Hoffnung heißt: nie wieder manisch zu werden.“ Die drei Kapitel „1999“, „2006“ und „2010“ stehen für den Ausbruch seiner paranoiden Manien. Die bipolare Störung reißt ihn sechs Jahre mit Dutzenden von Klinikeinweisungen und Selbstentlassungen „wahnstichig“ aus dem realen Leben. Seine letzte manisch-depressive Phase dauert zweieinhalb Jahre, ruiniert ihn vollends. Mithilfe von Freunden und Ärzten kann er nach 10 Jahren eine medikamentengestützte Therapie akzeptieren. Dem Text fehlt es nicht an Humor. (…)
Mit der Neuronen-Schwemme durch den Abgrund
„Das ist kein Roman, das ist der Hammer“, schreibt Sabine Vogel in der Frankfurter Rundschau (Nicht bei Trost, 07.09.2016). So ist es. Der Erkrankte irrt und taumelt durch die Welt. Er stürzt unaufhaltsam in die Tiefe, und je länger die Krankheitsphase andauert, desto abgrundtiefer der Fall. Und er merkt es selber nicht. „Das Bewusstsein hat den Halt verloren, der gesunde Menschenverstand ist ausgehebelt“, der Thomas Melle schreibt in seinem autobiografischen Roman Die Welt im Rücken schonungslos ehrlich und berührend über seine manisch-depressive Erkrankung. Nach 2011 und 2014 stand der Rowohlt-Autor nun zum dritten Mal auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis – zweimal auf der Shortlist und im Frankfurter Römer. Kürzlich erschien die 4. Auflage. Eine Rezension. ein tappen im dunkeln mit lichthöfen „durchgeknallte Schädel“ der Realität enthoben, von niemanden mehr erreichbar. „Der Kopf kocht über, die Hirnchemie ist durcheinander, alles ist überdreht“. Es gibt keinen Zugriff mehr auf die eigenen Taten und Erlebnisse, Erinnerungs- und Urteilsvermögen sind ausgeschaltet. Aber keine Angst: Melle ist ein blitzgescheiter und pointierter Erzähler. Dosiert und verständlich zeichnet er ohne Hektik seine Krankheitsgeschichte nach. Und droht es, zu heftig zu werden, wird ein Kapitel weggelassen. Für den Leser bleibt dann nur der Satz, „Wenn Sie wüssten, was hier gestanden hat“. Dennoch ist der Text kein Spaziergang. Erschreckend genug und zugleich verrückt lesen sich die Textpassagen, als Melle wie ein Wahnsinniger durch Berlin rennt, von einer Party zur anderen, (…)
Tage des Dämmerns
Den manischen Phasen folgt der Absturz in die Minussymptomatik, die Depression. „Tage des Dämmerns“, ein Jahr lang. Das verknöcherte Wahnkonstrukt zerfällt, der Erkrankte versinkt, eine große Müdigkeit setzt ein, der Blick wird „eindimensional und starr“, er „ist so allein wie nie“ zuvor. Dreht sich in der Manie alles um den Erkrankten, versinkt der Depressive in die Bedeutungslosigkeit. „Die Menschheit hatte mich nicht mehr im Visier.“ Zweimal unternimmt er einen Suizidversuch mit dem Tranquilizer Tavor, auch mit Schmerztabletten, wirft sich 150 Stück ein. Er beschafft sich eine Kiste voll Elektrokabel, veröffentlicht im Internet seinen Nachruf. Dieser wird als Selbstmordversuch gewertet, er landet in der Psychiatrie. Literarisch ist der Roman auch ein Versuch, „Fiktion und Autobiografie auf dem Nullpunkt zusammenzuführen“, das bislang „Verklausulierte und Abstrahierte“ herauszuhalten. Das gelingt. Muss der Manisch-Depressive doch drei Leben führen: „das Leben der Depression, das Leben der Manie und das Leben des zwischenzeitlich Geheilten.“ „Letzterem“, so Melle weiter, „ist nicht zugänglich, was seine Vorgänger taten, ließen und dachten“. (…)
Sozialhilfe, Übergangswohnheim und eine neue Liebe
Der dritte Krankheitsschub hat Melle endgültig ruiniert: Wohnungs- und völlige Mittellosigkeit, Suchtstation, Gerichtstermine, gesetzlicher Betreuer, Übergangswohnheim, Betreutes Wohnen. Sein letztes Hab und Gut bringt er in einem Container in Berlin unter, er transportiert mit dem Einkaufswagen Fernseher und Kleinmöbel in der U-Bahn zur Sozialeinrichtung. Auf seinen Wunsch übernimmt sein Agent Robert die gesetzliche Betreuung mit den Zuständigkeiten Finanzen, Aufenthalt und Gesundheit. Es dauert Jahre, bis er sich aus seinem wirtschaftlichen Absturz „herausarbeitet“. Melle gibt nicht auf. Er schreibt drei Romane, ist als Drehbuchautor und Übersetzer tätig. Er versteht sich mit Robert, gewinnt seinen alten Freund Aljoscha zurück, Ella tritt sein Leben, er beginnt Lithium zu nehmen, beide bitten ihn darum. Melle „gesundet und bleibt krank“. Er hat sich auf ein „Leben mit angezogener Handbremse“ eingelassen. „Nur nicht zu glücklich sein! (…)
Die vollständige Rezension wurde im Offenbacher Stadtmagazin „Mut & Liebe“, Ausgabe 21/2016 veröffentlicht. Klicken Sie hier.
Wir bedanken uns beim Rohwolt-Verlag Berlin und bei den Offenbacher Editionen für die Veröffentlilchung des Covers und Autorenfotos von Dagmar Morath – bei Mut & Liebe Offenbach für die Freigabe des Textes.
Thomas Melle: Die Welt im Rücken, Rowohlt Verlag Berlin, 4. Auflage 2016, 350 Seiten, EUR 19,95
ISBN 978-3-87134-170-0
Johann Kneißl: Wir brauchen noch Kaffee und Zucker, OE Offenbacher Editionen, 160 Seiten, Paperback; 210 Farbabbildungen, 1. Auflage 2014, EUR 16,80; ISBN 978-3-939537-37-3
Bezug direkt beim Autor johann.kneissl@allemunde.de, T 0176 5035 3472 oder im örtlichen Buchhandel.
Wir brauchen noch Kaffee und Zucker erzählt mit 60 Alltagsreportagen über Menschen, denen ihre psychische Erkrankung alles genommen hat. Sie haben ihr Leben neu entdeckt, Freunde gefunden, verbringen ihre Tage mit Unterstützung in Tagesstätten, Wohnhäusern und Integrationsfirmen. Sie gärtnern, spielen Fußball, kochen, machen Freizeiten, führen den Hund aus. Darüber berichten sie – auch Lustiges und Originelles. Eine einfühlsame und liebevolle Hommage an Menschen am Rande der Gesellschaft. Ein ermutigendes Buch für Gesunde und Kranke, Laien und Profis. Die Rezension lesen Sie hier.
„Wer das Buch gelesen hat, geht dankbarer durchs Leben.“ Martin Meding, Psychiatrische Praxis, 6/2015