Wien nach Offenbach geholt

Eine Jahrhunderte alte Tradition des urbanen Zusammenlebens aus dem Nachbarland Österreich macht in Offenbach Schule: Leben mit Hausbesorger. Menschen mit Handicaps haben bei der Stiftung Lebensräume in ihren Wohnhäusern einen ersten Ansprechpartner für ihre Alltagsbelange. Bereits zwei Wohnprojekte betreibt das Sozialunternehmen nach dem Wiener Modell in der Stadt Offenbach. Jetzt wird ein weiteres in Stadtrandlage bezogen.

Der Mensch braucht Ansprache

Menschen brauchen für eine gesunde Entwicklung Ansprache und soziale Akzeptanz in ihrem Wohnumfeld. Das Gespräch im Hinterhof oder einfach beim Nachbarn anklingeln und um eine Fahrradpumpe bitten zu können, sorgt für ein angenehmes und sicheres Lebensgefühl. Fehlt es an diesen Kontaktmöglichkeiten, können Gefühle von Nichtbeachtung, Isolation bis hin zur Ausgrenzung entstehen. Sozialkontakte im Wohnumfeld bereichern unser Leben und sie sind für Menschen mit Behinderungen umso bedeutsamer. Ihnen geeigneten Wohnraum in nachbarschaftlicher Umgebung bereitzustellen und diesen angemessen zu versorgen, obliegt der sozialen Verantwortung von Gemeinwesen und Kommune. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich.

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Städtischer Bauboom mit Eigentumswohnungen und gestiegene Mietpreise erschweren behinderten Menschen ohne oder mit geringem Erwerbseinkommen die Wohnungssuche. Sie haben auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance. Und die Wartelisten beim Wohnungsamt und den Wohlfahrtsorganisationen werden länger. Ein einzelner Akteur kann heute die Aufgabe nicht lösen. Stadt, Wohnungseigentümer und Wohlfahrtsträger müssen klug zusammenwirken, damit auch Menschen mit Behinderungen Wohnraum finden.

Auch soll heute das Zusammenleben durch verstärkten Zuzug einkommensstärkerer Menschen in städtische Lebensräume neu ausgehandelt werden. Eine Verdrängung sozial schwächerer Menschen ist zu verhindern, ein solidarisches Miteinander zu fördern. Gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind das hohe Anforderungen, die sie oft alleine nicht bewältigen können. Wohnraum wird eben nicht gerne an Menschen vermietet, die mit ihrer Alltagsbewältigung überfordert sind, ihren Haushalt nicht alleine besorgen können. Zu groß ist die Sorge, dass die Miete nicht bezahlt wird, mögliche Konflikte das Zusammenleben erschweren, die sanierte Immobilie nicht pfleglich behandelt wird. In der Tat sind für einen Mieter mit körperlicher oder seelischer Behinderung Aufwand und Kosten für Anmietung und Unterhaltung einer Wohnung kaum zu schultern.

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Zugleich sollen in Zeiten von Inklusion und sozialer Teilhabe Wohnheime aufgelöst und Menschen der Zugang zu Wohnraum in nachbarschaftlicher Umgebung ermöglicht werden. Die rechtliche Handhabe bietet dazu das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG), das seit 2017 Schritt für Schritt die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland umsetzt. Damit dies gelingt, braucht es Schnittstellen mit praktischen Hilfen, die dafür Sorge tragen, dass Menschen mit Handicaps nicht in prekäre Wohnverhältnisse geraten, sozial ausgegrenzt werden und ihr Obdach verlieren. Ein Concierge oder Hausbetreuer kann ein wichtiges Bindeglied sein – auch für „die Gesunden“ in der nachbarschaftlichen Umgebung, die bei Unsicherheiten und Konflikten einen Ansprechpartner haben.

Das Modell des Hausbesorgers

Wer nicht alleine mit seinen Alltagsangelegenheiten zurechtkommt, dem kann mit kleinen praktischen Hilfen durch einen Concierge schnell geholfen werden. Das kann das verstopfte Flusensieb der Waschmaschine sein, die geplatzte Mülltüte im Treppenhaus oder ein Missverständnis mit dem neuen Nachbarn, das Menschen mit Handicaps und mangelnden Sozialkontakten schnell vor unlösbare Probleme stellt. Bei größeren Aufgaben kann er weitere Hilfen hinzuziehen. Seit 2009 gestaltet die Stiftung Lebensräume in der Stadt Offenbach nach dem Wiener Modell des Hausbetreuers das Zusammenleben in einem eigenen und einem angemieteten Wohnhaus.

Zurück zu Wien: In der nach Berlin zweitgrößten deutschsprachigen Stadt sind heute noch rund 1.400 Hausbesorger im Gemeindewohnungsbau tätig. Sie haben eine Dienstwohnung im Gemeindebau, sind erste Ansprechpartner für die Bewohner, haben ein offenes Ohr für deren Anliegen und verkörpern die gute Seele im Haus. Im Jahr 2000 wurde in Wien das Hausbesorgergesetz abgeschafft. Geht ein Hausbesorger in Pension, übernehmen heute Hausbetreuer/innen ihre Arbeit. Weggefallen ist die Dienstwohnung, geblieben sind die Aufgaben. Gewohnt wird heute in einer Mietwohnung in der betreuten „Stiege“ (Etage) oder in einem nahegelegenen Wohnhaus, das höchstens 300 Meter von der „Stiege“ entfernt sein darf.

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Bei Lebensräume sind die Objekte mit rund 10 Hausbewohner deutlich kleiner, der Concierge hat eine Mietwohnung im Haus und ist für zwei bis vier „Stiegen“ zuständig. Das Modell findet hohe Zustimmung. Die Bewohner schätzen es, vor Ort einen Ansprechpartner zu haben, sie fühlen sich nicht „so einsam“, haben mehr Sicherheit im Umgang mit ihren Wohnungsnachbarn und der umliegenden Nachbarschaft. Mit kleinen Hoffesten wird die Gemeinschaft gefördert, Tische und Stühle laden im Garten zum täglichen Verweilen und Gespräch ein. Wechselt in der angrenzenden Nachbarschaft ein Mieter, stellt sich der Concierge vor, spricht offen mit den Menschen, baut Vorurteile ab. Die Praxis zeigt, dass die Begegnungen im Hof oder auf der Straße für beide Seiten normaler geworden sind, Ängste und Vorurteile abgebaut werden konnten. Menschen mit Handicaps verbringen ihre Zeit nicht mehr ausschließlich alleine in ihren Zimmern, trauen sich wieder zu, im Hof oder Garten zu sitzen. Dabei spielen sie Karten oder setzen am Wochenende den Grill in Gang. Ist ein Würstchen übrig, wird es über den Zaun gereicht. Jetzt startet Lebensräume in der Stadt Offenbach das dritte Wohnprojekt mit Concierge.

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Investor, Sozialträger und Stadt kooperieren

Ein Frankfurter Investor hat in guter Offenbacher Stadtrandlage ein altes Mehrparteienhaus gekauft und komplett saniert. Die Stiftung Lebensräume hat das Objekt für 15 Jahre angemietet, die Stadt Offenbach unterstützt das Hausbesorger-Projekt. Wünsche des Generalmieters für ein angemessenes und zeitgemäßes Wohnen werden berücksichtigt. Auf vier Etagen finden 10 Bewohner Platz, im Anbau wohnt in unmittelbarer Nähe zu „den Stiegen“ der Hausbetreuer. Jeder Mensch hat ein schönes Zimmer, auf jeder Etage gibt es eine ausgestattete Küche mit Gemeinschaftsraum, ein Bad und eine Gästetoilette. Das Gebäude verfügt über einen geräumigen Hinterhof mit Grünfläche und Grillecke. Die Vergabe der Wohnräume und Verwaltung übernimmt die Stiftung Lebensräume. Das Wohnen mit Concierge ist eine echte Alternative zum Wohnheim, das heute nicht mehr zeitgemäß ist. Auch Menschen mit Behinderung wollen ein normales Leben führen, Kommune und Gemeinwesen müssen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Mit dem Hausbetreuer-Modell wird ein Stück Wien nach Offenbach geholt. Praktizierte Inklusion. Text und Bilder: www.allemunde.de

Der Artikel wurde im Offenbacher Stadtmagazin Mut & Liebe, Ausgabe 23, am 1. Juni 2017 veröffentlicht. Klicken Sie hier.