Mit Sprache aus dem Gefängnis ausbrechen
Mit ihrem Gedicht „Viel lesen, viel schreiben und viel reden“ eröffnete Gina Sipek den musikalischen Lesereigen von drei Autor*innen und zwei E-Gitarristen vor 60 Gästen im Hof des Offenbacher Mehrgenerationenhauses in der Weikersblochstraße. Gina Sipek intonierte mit klarer Stimme und brachte ihre Erfahrungen beim Erwerb der deutschen Sprache mit fünf Kurzzeilen auf den Punkt: „Am Anfang fühlt man sich wie in einem Gefängnis, wo deine Worte, Gefühle, Freude in dir bleiben.“ Das Gedicht entstand in der Offenbacher Buchstabenwerkstatt HER | AN | ZU | KUNFT. Gina Sipek besuchte bei der vhs den B2-Sprachkurs und nahm an der Schreibwerkstatt teil. In der im Anschluss gelesenen Kurzgeschichte „Eltern Kennenlernen – kein Tourist“ führt Gina Sipek die Zuhörer*innen in ein südosteuropäisches Dorf zu ihrem Elternhaus nicht unweit der Stadt Ramnicu Valcea, eine der ältesten Siedlungen in Rumänien. Sie lebte in drei europäischen Ländern, heiratete unterwegs und wanderte mit ihrem Mann nach Deutschland ein. Die Reise ist eine Zeitgeschichte einer unternehmungslustigen Frau zurück in ihre Kindheit mit Tieren im Stall, eingelegte Paprika und Säcken mir Walnüssen. Der Besuch wird nicht angekündigt, auch kennen die Eltern den Ehemann nicht. Spontan bekommen sie ihn morgens beim Füttern der Tiere im Stall zu Gesicht, nehmen ihn herzlich in ihre Arme. „Er ist hier kein Tourist, er gehört zur Familie“, sagt die Mutter später, als die Tochter mit ihm zu Draculas Schloss, der Touristenattraktion „Bran Törzburg“, aufbricht. Die Kurzgeschichte gewinnt dadurch an Stärke, dass die Protagonistin sich nicht in ihrer Vergangenheit verfängt, in ihre Kindheit zurückfällt. Originelle Elterndialoge geben Einblick in das Leben auf dem Hof, das Dolmetschen der Tochter bildet die Lebensrealität vieler Einwander*innen ab. Die Dialoge bleiben originell, bodenständig, lebensbejahend. Die Absolventin einer Verwaltungsfachschule und gelernte Verkäuferin verdient ihr Geld in der Gastronomie und im Backwarenhandel. Zentrale Triebfedern der Handlung sind die Selbstständigkeit und Spontanität der Protagonistin. Kaum angekommen, bricht sie mitten in der Nacht auf, kommt mit ihrem Mann um 6:00 Uhr morgens am Schwarzen Meer an. „Seid ihr schon wach, das Frühstück ist fertig!“, ruft die Mutter zwei Stunden später ins Telefon. 6000 km ist Gina Sipek im Auto unterwegs. Die Reisetage mit dem Ehemann werden als Flitterwochen erlebt. „Wir standen spät auf, tranken unseren Kaffee wann wir wollten, fuhren los wie es uns passte. Die Tage gehörten uns.“ Bei der Abreise wird der Kofferraum „mit eingelegten Gurken, Paprika, Zwiebeln, Tomaten, zwei Liter reinem Zwetschgen-Schnaps, Kirschkompott, Pflaumenmarmelade und einer großen Aldi-Tüte mit Walnüssen“ gefüllt. Als ein Jahr später ihre Mutter in Offenbach an der Bushaltestelle Frankfurter Straße / Ecke Ludwigstraße ankommt, geht es nach wenigen Stunden weiter zur Schwester nach Barcelona. Auch diese Reise wurde weder Mutter noch Schwester mitgeteilt: „Meine Mutter war nie zuvor im Ausland gewesen. Sie staunte in Paris, staunte in San Sebastian, staunte in Bilbao, staunte in Madrid und staunte in Barcelona.“
Konstantina Balgouranidou führt die Zuhörer*innen mit ihrer Kurzgeschichte „Guten Morgen ohne guten Morgen“ um 6:30 Uhr an eine deutsche Bushaltestelle ihres Wohnquartiers. Der Titel lässt erahnen, dass ihre Fröhlichkeit und gute Laune nur von vorübergehender Dauer sein wird – trotz aller Hartnäckigkeit beim Begrüßen der wartenden und neu ankommenden Fahrgäste. „Ich habe wieder ‚Guten Morgen‘ gesagt, während ich meine selbst gedrehte Zigarette rauchte. Keine Antwort. Ich war sprachlos und fragte mich, was ich falsch gemacht habe.“ Auch auf dem Weg zum Bahnhof bleiben im Bus die Emotionen im Keller. „Jeder hatte seinen Blick auf das Fenster gerichtet, ohne Emotionen.“ Ein Gedankenkarussell nimmt im Kopf der Protagonistin seinen Lauf. Wieso sind die Menschen hier so unfreundlich? Was ist mit ihnen los? Das „Guten Morgen“ gehört für die Autorin in Griechenland zur Mentalität. „Wie kann man ohne ‚Guten Morgen‘ froh zur Arbeit gehen, ohne ein lachendes Gesicht?“ Die Erzählerin brauchte „lange Zeit“, bis sie ihr Verhalten ändern konnte, ohne selbst ihren Tag freudlos zu beginnen. Heute grüßt sie an der Bushaltestelle nicht mehr. „Schade für die Menschen“, fügt sie am Ende ihrer Geschichte mit einem Bedauern hinzu.
Mit ihrer Sensibilität und Lebensfreude gelingt es der Sozialantropologin und Historikerin bei der Sommerlesung auch, Themen wie Tod und menschliche Identität anzusprechen. Mit dem philosophischen Prosagedicht „Das Leben, das wir noch nicht gelebt haben“, führt sie uns hinein in den „Zwischenraum Leben“, den wir täglich zu gestalten haben und an den wir uns zu erinnern vermögen, und zwar nur an den, wenn wir wieder aus dem Leben treten. „Wir kommen auf diese Welt alleine und sterben alleine.“ Für die Autorin bleibt nur der mit Menschen gestaltete Zwischenraum. „Es gibt Wörter, die du noch nicht gesagt hast, es gibt Menschen, denen dein Umarmen fehlt. Mach das jetzt. JETZT! Bevor du gehst.“ Konstantina Balgouranidou ist eine bedingungslose Lebensbejaherin, Jenseitsversprechungen sind ihr ein wackeliges Gerüst, das der Mensch noch nicht kennt und somit auch nicht sicher sein kann, ob er wirklich immer da sein möchte, wo es scheinbar am Schönsten sein soll. „Aber was wird passieren, wenn ich eigentlich dahin nicht gehen wollte? Kann ich das ändern wenn ich tot bin?“
Um Existentielles geht es auch im Gedicht „Mein Name ist…“ Ausgehend von ihrem Namen geht die junge Autorin tief in ihre Idendität hinein. „Ich bin nicht nur die eine Person mit meinem Namen.“ Sie schafft Bewußtsein für all die sie umgebenden Menschen: die Freunde in der Kindheit und Jugend, die Großeltern und Eltern, den Ehemann und viele mehr. „Wie heißt du? Wie präsentierst du dich? Bist du zufrieden mit (…) deiner Prosonalität?“ Die Fragen sind leise mehr an sich sebst, aber auch ans Publikum gerichtet. Konstantina Balgouranidou blickt „klaren Auges“ in die Runde, ins Gesicht ihrer Mutter, ihres Ehemannes, lässt Pausen ehe sie auf der Bühne verstummt, die Tränen zu laufen beginnen…
Es ist die Musik der virtuosen E-Gitarristen Torsten Buckpesch und seines Schülers Lukas Jahn, die nach einer kurzen Pause den philosophischen Faden gekonnt aufnimmt, die Texte der Autorin mit Herzblut umspielt und es versteht, eigenständige Akzente zu setzen und den Faden weiterzuspinnen. Es ist die Stärke der Musik mit ihren Jazz, Rhythm & Blues-Improvisationen von George und Ira Gershwin, Duke Ellington, Pink Panthers und eigenen Titeln, die nie von den Texten ungerührt bleibt und das Berührtsein vor dem Publikum auch offen ausspricht. Stets sind die Übergänge fließend, die Stimmung der Texte wird aufgenommen, das musikalische Programm spontan variiert. So bleiben Literatur und Musik miteinander verwoben und die Autor*innen wie E-Gitarristen konnten beim Zuhören des jeweils anderen voneinnder profitieren. Eine Augenweide bildete dabei auch die siebenseitige selbstgebaute Jazzgitarre von Torsten Buckpesch. Und das großartige Publikum verstand es, Musik und Texten zu lauschen. Es war so still, man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Nach der kulinarischen Pause und Rundgängen an den zehn Holzstelen, an denen die Autor*innen ihre Texte als „Hofausstellung“ präsentierten, fädelte Johann Kneißl als dritter im Leseverbund mit seinem lyrischen Prosasextett „Der blaue Kran“ (Offenbacher Einladung, Größenwahn-Verlag / MAIN-Verlag) seine Zuwanderergeschichte in die Texte der Buchstabenwerkstatt ein. Er performte 35 Jahre erlebte Geschichte mit dem Offenbacher Hafenkran vom industriellen Roboter zum Kran der Künste „Belvedere“. Der Autor, der mit knapp 50 Jahren zu schreiben anfing, begann 1985 sein Leben in Deutschland gegenüber in einem antroposphischen Altenheim im Gartenhäuschen am Nordring 52. Er hörte das Krachen der tonnenschweren Frachten auf Waggons und LKWs, gärtnerte auf der Schotterpiste im Offenbacher Hafengarten und genießt jetzt den Aussichtsturm an seiner nahegelegenen Wohnung im Holzhybridhaus. Auch seine unveröffentlichte Kurzgeschichte „Ankunft eines Zuwanderers“ ist eine Hommage an seine zur Heimat gewordenen Stadt Offenbach, die er vom ersten Tag nie als fremd erleben sollte. Es sind die Menschen aus über 168 Ländern, die ihm immer neue Begegnungen eröffnen und ihn so in Offenbach in der nahezu ganzen Welt zuhause sein lassen.
Konstantina Balgouranidou schloss mit ihrer Kurzgeschichte „Mein Körper wurde schweißnass“, bei dem sie von ihrem ersten Vorstellungsgespräch im Glasturm einer Frankfurter Bank erzählt, den musikalischen Lesereigen gegen 19:30 Uhr. Die Autorin brachte zum Schluss der Lesung auf den Punkt, wie grundverschieden der Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt im Vergleich zu vielen Herkunftsländern ist und welche Hürden ein Vorstellungsgespräch, das selbst um eine Stelle als Servicekraft geführt werden muss, Zuwander*innen auferlegt und „schweißgebadet“ aus Konferenzräumen treten lässt. „Bei meiner letzten Stelle hatte ich einen Zettel im Schaufenster gesehen. Ich schickte eine Nachricht im Messenger. Wir vereinbarten im Messenger einen Termin – ohne Berbungsunterlagen. Das ist hier nicht so.“
Jürgen Platt, Gründungsvorsitzender des Vereins Lebenszeiten e.V. und Mitbewohner des Hauses mit über 40 Menchen in 28 Wohnungen, moderierte mit viel Gefühl die zweieinhalbstündige Veranstaltung bei angenehmen Temperaturen im Hof des Mehrgenerationenhauses. Er führte die Autor*innen und Musiker steckbriefartig in ihre Lese- und Musiksets ein und setzte sie damit ins rechte Licht auf der Sommerbühne, die mit Sonnensegel und der bereitgestellten Tonanlage den Künstler*innen ideale Bedingungen bot. Er fand auch in den Übergängen zwischen Musik- und Leseszenen immer die richtigen Worte für die Künstler, mit denen er auch das Publikum berührte und die Zeit kurzweilig vergehen ließ.
Der Dank gilt natürlich den vielen Helfer*innen, die den Hof bestuhlten, ein schmackhaftes Buffet nach den Herkunftsländern der Zuwander*innen zubereiteten und in den Pausen mit Erfrischungsgetränken verkauften, die für eine einwandfreie Technik und damit rundum für eine gelungene Veranstaltung sorgten, bei der zwei Zuwanderinnen und Autorinnen der Buchstabenwerkstatt erstmals in einem Stadtquartier ihre Texte der Öffentlichkeit präentieren konnten. Danke auch an Clara Werner, die die Veranstaltung fotografierte. Lastbut not least gilt unser Dank dem neuen Vorstand von Lebenszeiten e.V. um Christine Klein und Matthias Steurer, der uns sehr herzlich aufnahm und eine großartige Bühne bot. Gerne wieder.
Beim Autor erhältliche Publikationen:
Die Buchstabenwerkstatt HER | AN | ZU | KUNFT, Johann Kneißl (Hrsg.), Offenach, 2. Auflage 2022, Werkstattheft 1+2 € 13,00
Licht*Skizzen, in: DD3 Druck und Design, pict kommunikationsdesign (Hrsg.), Zarbock GmbH 2020
Der Blaue Kran, in: Offenbacher Einladung, Ingrid Walder / Sigrid K. Eismann (Hrsg), Größenwahn Verlag 2019, € 14,90
Literatur zur Werkzeit, Siegrid K. Eismann / Johann Kneißl u.a. (Hrsg.), Offenbacher Editionen, OE, 2015, € 14,80
Wir brauchen noch Kaffee und Zucker, Offenbacher Editionen OE, 2014, € 16,80
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