2. Offenbacher Lyriknacht im Klingspor Museum

Lyrik ist ehrlich – am 14. Oktober 2017 rezitierten zwölf europäische Lyrikerinnen und Lyriker anlässlich der Frankfurter Buchmesse im Lesesaal des Klingspor Museums für Schrift- und Buchkunst unter dem Motto „Zeitgenössische avantgardistische Lyrik“ ausgewählte Gedichte über Leben, Freiheit und Klang.

Einzigartig auch das Format an diesem besonderen Offenbacher Ort: Der Frankfurter Verleger Sewastos Sampsounis vom Größenwahn Verlag hatte als Veranstalter und Moderator des Abends Lyriker seines Hauses und ausgewählte Gastautoren eingeladen. Jedem standen fünf Minuten Lesezeit und anschließend ein Kurzinterview von zwei Minuten zur Verfügung. Dazwischen sorgte Percussion-Künstler Günter Bozem für beeindruckende Klänge. 120 Minuten konzentrierte Gedicht- und Musikkunst.


Johann Kneißl eröffnet die Lyriknacht – Sewastos Sampsounis mit Günter Bozem (im Hintergrund von rechts)

Ich war als Offenbacher Autor der Gruppe „Literatur zur Werkzeit“ zu Gast. Eine besondere Ehre war für mich, dass ich als Europäer und überzeugter Offenbacher vom Verleger mit meinem „ersten Ruf“ eingeführt wurde und den Abend eröffnen durfte: „Lyrik muss den Blick nach vorne richten, gesellschaftspolitisch sein, die Kreatur Mensch nicht im Stich lassen, die Welt offen halten.“

Jeder Autor wurde mit seinem persönlich geschriebenen Ruf vorgestellt – angelehnt an die aktuelle Museumsausstellung „The Next Call“ des niederländischen Künstlers Hendrik Nicolaas Werkmann (1882-1945). Auch das Leseplakat war nach Werkmanns gleichnamiger Grafik von 1926 gestaltet, sein Ruf uns Autoren mitgegeben: „Ein Schauer durchfährt den Körper, der die Freiheit seines Geistes fürchtet.“


Der Lesesaal im 2. Obergeschoss des Klingspor Museums im Büsing Palais in Offenbach

Meine vorgetragenen Gedichte entstanden bei einer Stadtlesereihe 2014 in Offenbach. Unter dem Titel „Literatur zur Werkzeit“ habe ich mit fünf Autorinnen bei zwölf Lesungen in Produktionsstätten, Geschäften und Lokalen Prosagedichte und Kurzgeschichten vorgetragen – immer musikalisch begleitet. Alle Texte der Lesereise wurden unter dem –Titel „Literatur zur Werkzeit“ (ISBN 978-3-939537-35-9 – € 14,80) auf 240 Seiten mit schwarz-weiß Fotos in einem hochwertigen Leinenbändchen veröffentlicht.
Ich las sieben Gedichte über die Welt, den kleinen Menschenkopf, Herkunft, Offenbacher Straßen und Cafés, die Sonne und den Hafengarten, der in Säcken und Kisten auf der Hafenbaustelle am Main für Wachstum sorgt.

Mein Lieblingsgedicht „Nordenddreck – da wo man das Leben noch riechen kann“ bildete dabei den Höhepunkt: Die Stadtsäckel sind leer – das ist gut so / Es wird nicht gassenweit aufpoliert / auch die Metropolenbewohner werden verschont. // Entlang der Häuserzeilen Lattenroste / liebesgetränkte Schaumstoffmatratzen / durchgesessene Sofaelemente / Geschichten um Geschichten // Das Dreckige / damals neu / in preissturzgekrönten / Möbelhäusern / diesen ausladenden / Indoor-Fußballplätzen // Der Dreck ist schöner / Man riecht förmlich die um die Ohren / geschlagenen Nächte / Tränen und Schweiß / die Pommes mit Mayo / amerikanische Cola / türkischen Mokka. (S. 23)

Drei Jahre später ist mein Gedicht ein gesellschaftspolitisches Zeitdokument. Jetzt stehen überall Abrissbirnen und Baukräne, Eigentumswohnungen werden gebaut, die Gassen herausgeputzt, ein Müll-Beauftragter bei der Stadt sorgt dafür, dass Sofas und Matratzen kurzfristig abgeräumt werden. Die Schmuddelstadt Offenbach an Frankfurts Seite wird aufpoliert, der öffentliche Lebensraum zugebaut, einkommensstarke Neubürger sollen in die „nachverdichtete“ Stadt ziehen, für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen.


Die Lyrikerinnen und Lyriker der 2. Offenbacher Lyriknacht

Die Autoren repräsentierten acht europäische Länder, Gundula Schiffer trug ihre Texte in deutscher und jüdischer Sprache vor. Wunderbare Lyriker mit großer Sprachkraft und völkerverbindenden Fähigkeiten – unabdingbar im Zeitalter des aufkeimenden Nationalismus und volksverhetzender Parolen. Passend dazu Bozems Klang-Performance.

Besonders nachdenklich stimmte mich die kroatische Autorin Tamara Labas mit dem Gedicht „Zitronenscheiben im Wasser“ aus ihrem neuen Gedichtband „Zwölf“ (Größenwahn Verlag): (…) wir trinken diese erfrischung in kleinen schlucken und löschen unseren durst. fördern unser wohlbefinden, frei und sorglos. Fremde völker wie syrer, somali, eritreer, afghanen, iraker. Ach, es gibt so viele. sie rütteln an europas türen. wir aber wollen unseren frieden und zeit für unser wohlbefinden. das zitronenwasser ist wirklich köstlich! (S. 108)

Der griechische Lyriker Andreas Arnakis brachte den Abend treffend auf den Punkt. „Lyrik ist ehrlich.“ Die 2. Offenbacher Lyriknacht rundete als 12. Autorin meine Offenbacher Kollegin Katharina Eismann, Mitglied der Offenbacher Gruppe „Literatur zur Werkzeit“, mit ihrer ausdrucksstarken lyrischen Performance ab.

Folgendes Material zur Lesung können Sie hier herunterladen:
>Plakat „Der nächste Ruf“
>Programmheft Lyriknacht – Vitae der Autorinnen und Autoren
>Kurzinterview Johann Kneißl
>Gedicht „Nordenddreck“