Erzählte Frankfurter Poetikvorlesungen

Silke Scheuermann ist ein weiter(er) literarischer Sprung gelungen: Das in Offenbach wohnende Schreibtalent ist nach Wiesbaden bereits zum zweiten Mal in das Mekka der universitären Poesie aufgenommen worden. „Gerade noch dunkel Genug“ titelt sie ihre Lesereihe. Die Lyrikerin, Erzählerin und Romanautorin präsentiert ihre dreiteilige Poetikvorlesung um die Themen „Nacht – Tag – Zwielicht“ als Erzählkunstwerk.

Foto: Alexander Paul Englert

Nacht- und Tagwerke

Silke Scheuermann ist eine Meisterin des ersten Satzes: Mit „Erklären Sie mir den Unterschied zwischen Gedicht und Roman?“, eröffnet sie mit einer Frage, die ihr eine Zuhörerin nach einer Lesung auf der dunklen Straße stellte, die Frankfurter Poetikvorlesungen. „Das Gedicht ist als Momentaufnahme und Stimmungsäußerung mehr ein Nachtwerk, während ich den Roman, der für mich ein soziales Kunstwerk darstellt, als mein Tagwerk betrachte.“ Sofort hängen der Poetikdozentin die Zuhörer im gut gefüllten Saal an den Lippen, lassen sich auf ihrem erzählten Nachhauseweg in das mitternächtliche Arbeitszimmer mitnehmen. Als sie die Wohnung betritt, erhebt sich der Hund, streckt die Vorderpfoten, richtet die Hinterbeine auf, macht sich lang. Ist der Mantel ausgezogen und sind die Stiefel abgestreift, gleiten die Finger über Buchrücken, halten plötzlich bei einem Titel inne, ziehen ihn aus dem Regal in die Hände und mit der ersten Buchseite wird die literarische Welt lebendig. Bei ihren Worten spüre ich plötzlich in mir dieses großartige Glücksgefühl als Leser – weder Neuwagen noch Reihenhaus würde ich dafür eintauschen. Es ist ein bei sich zuhause sein, ein nur noch Dasein, ein Zustand, bei dem jegliche Materialität zu existieren aufhört und man doch mit der Welt im Einklang ist. Die Stimmung um Mitternacht.
Das Gedicht steuert rasch (…)

Das soziale Kunstwerk „Roman“

Bei Romanen ist „der Fokus enger gefasst: Zeit, Ort, Figuren – ein soziales Kunstwerk eben“. Auch hier gibt der erste Satz den Ton des gesamten Textes an: Mit „Glaubst du, das ist eine tote Nutte?“, beginnt Silke Scheuermann ihren neuen Roman „Wovon wir lebten“ (2016). Der zu laut gerufene Satz eines Jungen an der Mainuferböschung lässt Blesshühner, Enten und Nilgänse aus dem Schilf auffliegen, ein packender Entwicklungsroman mit über 500 Seiten in menschliche Abgründe nimmt seinen Lauf.
„Was macht es für einen Sinn, ein Buch zu schreiben über Personen, die es in Wirklichkeit nicht gibt“, wird die Autorin von einem Mitpatienten im Krankenhaus gefragt. Die „Gefühlschronistin der scheuen, der verborgenen Art“ (Die Zeit) schafft Figuren, wie es das wirkliche Leben nicht bietet. „Romanfiguren müssen lebendiger und um ein vielfaches interessanter sein als reale Menschen.“ Auch „der Autor muss sich beim Schreiben verwandeln können, Empathie zu seinen Helden reicht nicht aus“, sagt Silke Scheuermann in Anlehnung an Elias Canettis Rede „Der Beruf des Dichters“ (1976). Ein Jahr ging die Dichterin beim Schreiben von „Wovon wir lebten“ nicht ans Telefon (…)

Foto: Alexander Paul Englert

Im Zwielicht

„Wie erkläre ich meinem Hund, warum Zebras Streifen haben?“, fragt die Autorin und fügt fragend den Titel ihrer dritten Lesung hinzu: „Zwielicht oder träumen Zebras von karierten Löwen?“ Weiß und Schwarz, Tag und Nacht. Dienen die Streifen der Hitzeregulation oder sind sie mehr Schutz vor dem literarisch karierten Löwen? Soviel steht fest: Bewegen sich Zebras, verschwimmen ihre Abgrenzungen, das Dasein wird zu einem Dämmerungsdasein, das so stylische und extravagante Tier zur zwielichtigen Gestalt – wie die biertrinkenden Männer und schwarz gekleideten Jungs nachts am Mathildenplatz.
Das Zebra als Sinnbild des Scheiterns, der Dämmerung, aber auch der Übergänge und Spielräume zwischen Weiß und Schwarz, (…)

Ich besorge mir vom Büchertisch den Titel „Und ich fragte den Vogel“. Die Autorin signiert am universitären Lesepult: „Und ich fragte den Vogel, ob es gerade noch dunkel genug sei auf ein letztes Bier.“ Silke Scheuermann, Februar 2018. In der Döneria am Goetheplatz beginne ich darin zu lesen – bei einer Flasche Binding und einem scharf gewürzten Döner. Es ist gerade noch dunkel genug.

Der Artikel wurde am 1. März 2018 im Offenbacher Stadt- und Kulturmagazin Mut & Liebe, Ausgabe 26/2018, veröffentlicht. Klicken Sie zum vollständigen Text hier.

Silke Scheuermann:
Gerade noch dunkel genug,
Frankfurter Poetikvorlesungen,
Schöffling & Co Frankfurt,
ca. 96 Seiten, Englische Broschur
€ 18,60 – ISBN 978-3-89561-379-1
Erscheint im Mai 2018