FeierAbend mit „Literatur zur Werkzeit“ im Gärtnerhäuschen

Das Offenbacher Literaturprojekt entstand vor 10 Jahren als Format zur Werkzeit. Ein Jahr lang wurde jeden ersten Mittwoch im Monat während des laufenden Betriebs in Geschäften und Lokalen eine Stunde lang der gewohnte Arbeitsalltag mit Literatur und Musik etwas „durcheinandergebracht“. Sechs Autor*innen und neun Musiker*innen boten an zwölf Orten hausgemachte Buchstaben- und Klangkost. Jetzt mutierte das Arbeiter*innen-Format zur FeierAbend-Veranstaltung im „Offenbacher Gärtnerhäuschen“, gelegen auf dem Bieberer Berg am Rande des 22 Hektar großen und über 100 Jahre alten Leonhard-Eißnert-Parks. Das Gärtenhäuschen war jahrzehntelang die Betriebsstätte der Gärtner, durch das heutige „blaue“ Rundbogentor fuhren schwere Garten- und Landschaftsmaschinen.
Anna Hüpenbecker, langjährige engagierte Vorsitzende der Naturfreunde Offenbach e.V., erreichte mich während meines Sommerurlaubs mit Frau und Hund in der Stadt Pula, dem „kleinen Rom“ auf der Südspitze Istriens in Kroatien. Während unseres 10-minütigen Telefonats erzählte ich ihr von meiner aktuellen literarischen Arbeit und erwähnte mehr nebenbei mein erstes Leseprojekt mit der Literaturgruppe „Autoren unterwegs in Offenbach“. Postwendend ihre Antwort: „Das will ich haben.“ Gesagt, getan. Mit Literatur zur Werkzeit begann ich mein literarisches  Schreiben. Genau 10 Jahre später lese ich am 15. August 2022 im „Grünen Wohnzimmer“ beim Kulturformat „FeierAbend“ der Naturfreunde.

Auch zu FeierAbend blieb es wie zur Werkzeit bei einer Lesestunde – einschließlich Begrüßung und Vorstellung des Leseprojekts. Auf die Minute. Mein vierteiliges Lese-Set verfolgten „im Stuhlkreis“ ein gutes Dutzend Menschen unter einem hoch über die Köpfe hinausgewachsenen „grünen Lesezelt“. Der Baumbestand im Park ist ein Geschenk im Zeiten des Klimawandels. Welche Erholung bietet er dem Mensch in den Hitzesommern, bei denen die Temperaturen zu Feierabend am höchsten sind. Ein Dank den Bäumen! Noch nie habe ich so „lauschig“ gelesen. Die lockere Wohnzimmer-Atmosphäre vor dem liebevoll restaurierten blauen Tor bei ordentlich belegten Käsebrötchen und spanischem Rotwein entspannte auch die Gäste. Beeindruckend auch ihre Aufmerksamkeit und Empathie, die sie mir als „FeierAbend-Autor“ entgegenbrachten. Es war eine Stunde voller Leben – und das nach meinem fünfstündigen Onlineunterricht in einem B2-Berufssprachkurs.


Buchstabenleser mit Zuhörerin: Johann Kneißl und Anna Hüpenbecker am Lesetisch mit den hochwertigen textilgebundenen Büchern „Literatur zur Werkzeit“

Mein Leseprogramm, das die Zuhörer*innen auch in ihre Hände nehmen konnten, kam gut an. Als Eröffnung las ich meine starken Offenbach-Gedichte: „Damenbluse ohne Duldung“, „Nordenddreck“, „Hafengärtner“, „Tomatensommer“ und „Wolkenlos“. Sie waren der perfekte Einstieg und zeigen Offenbach von der ungeschminkten und liebenswürdigen Seite. „Nordenddreck hat mir am besten gefallen. Das Gedicht ist wie das echte Leben“, sagte nach der Lesung ein Zuhörer zu mir. Im zweiten Teil ging es mit „Besonderes Elternhaus“ und „Oststeirischer Frühlingsreigen“ um meine Herkunft. Mit der in beide Gedichte eingebetteten Kurzgeschichte „Frischmilch und Topfenstrudel“ schlug ich die Brücke von einem oststeirischen Kuhstall zur  Offenbacher Käsefabrik L‘ Abbate.
Natürliche durfte auch Nachdenkliches, Sprachphilosophisches nicht fehlen. Unser Kopf ist schließlich kein Dauerläufer. Mit „Kopfleere“, „Der Buchstabensucher“, „Lauf Hase, lauf“ und „Blühende Männerfüße“ wurde so manche Not eines oft bis zum Anschlag arbeitenden „Kopfes“ spürbar. „Der Buchstabensucher“ erinnerte meine Zuhörerin und Autorenkollegin Annemarie Ptak an das Suchen der Buchstaben auf der Schreibmaschine im letzten Jahrhundert ohne Zehnfingersystem. Auch bei „Kopfleere“ entdeckte sich eine Besucherin wieder. „Unser Kopf braucht Halt und Handlungsspielräume zum Überleben“. Den Höhepunkt der Lesung bildete schließlich mein „gemischter Satz“ mit den „schönen Gedichten“, die den Zuhörer*innen sichtlich Freude bereiteten. Ein Gemisch aus der runden Welt (Wie schön), einer Zugfahrt durch das Tessiner Tal von Zürich nach Locarno (Locarno und Tessiner Abendkleid) und der goldglänzenden Pellkartoffel (Sie glänzt so wunderbar).
Danke an die Zuhörer*innen für diesen wunderschönen Abend. Mein besonderer Dank gilt Anna Hüpenbecker für die Organisation, Bewirtung und einzigartige Atmosphäre. Eine weitere Veranstaltung im Gärtnerhäuschen mit „Literatur und Musik“ ist in Planung. Freuen Sie sich darauf!

Besonderes Elternhaus
für Brigitte S.
Kuhstall // Volksschule // Landwirtschaftliche Fachschule // Schmiedehammer //
Und ich dachte, sagte sie // du kommst // aus einem // ganz besonderen // Elternhaus //
Dachte ich – // so wie // du dich // ausdrückst

… da, wo man das Leben noch riechen kann
Nordenddreck
Die Stadtsäckel sind leer – // das ist gut so // Es wird nicht gassenweit aufpoliert // auch die Metropolenbewohner werden verschont //
Entlang der Häuserzeilen Lattenroste // liebesgetränkte Schaumstoffmatratzen //
durchgesessene Sofaelemente // Geschichten um Geschichten //
Das Dreckige
damals neu // in preissturzgekrönten // Möbelhäusern // diesen ausladenden // Indoor-Fußballplätzen //
Der Dreck ist schöner // Man riecht förmlich die um die Ohren // geschlagenen Nächte // Tränen und Schweiß // die Pommes mit Mayo // amerikanische Cola // türkischen Mokka

Kopfleere
Den leeren Kopf nicht schlechtreden. // Besser bekommt ihm, // wenn er haltgebend in beide Hände genommen wird. //
Keinesfalls Haare raufend auf ihn einprügeln.

Wie schön
Die Welt ist rund – // wie schön.
Geradeaus ist kein // zu Ende kommen.
Und eckig – // ein fortwährendes // sich den Kopf // anstoßen.

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Literatur zur Werkzeit, Siegrid K. Eismann / Johann Kneißl u.a. (Hrsg.), Offenbacher Editionen, OE
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