Solche Geschichten müssten öfters vorgelesen werden
Die Kleinkunstbühne des Offenbacher Möglichkeitsraums ZweitLOF.FT im Hinterhof der Bernardstraße wurde am 21. Februar 2024 für die sechs Autor:innen der Buchstabenwerkstatt HER | AN | ZU | KUNFT zur persönlichen „Großbühne“. Stolz saßen sie jeweils zu zweit auf den Theaterstühlen im weißen Bühnenraum. In einer Hand das Mikrofon, in der anderen das gelbe Werkstattheft 3, aus dem sie ihre eigene Kurzgeschichte oder ihr Gedicht zum Thema „Demokratie und Freiheit“ vorlasen. Vor dem Hintergrund des Potsdamer Treffens im November 2023 zum Thema „Remigration“, nach der eine große Anzahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen sollen, bekam die Lesung eine besondere Bedeutung. „Diese Geschichten“, erzählte in der Pause eine Zuhörerin, „müssten viel öfter vorgelesen werden“. Die Texte entstanden ein Jahr zuvor im Frühjahr 2023 in Kooperation mit der vhs Frankfurt. Am 18. Mai 2023 wurden sie erstmals beim Frankfurter Paulskirchenfestes zum 175. Jubiläum, der ersten Deutschen Nationalversammlung, im Stadthaus Frankfurt am Neuen Römer der Öffentlichkeit vorgestellt.

Einen Monat vor der Offenbacher Lesung fanden am 20. Januar 2024 in Großstädten Deutschlands Demonstrationen „gegen Rechts“ statt. Unter 35.000 Teilnehmer:innen am Frankfurter Römer und an der Paulskirche standen auch Autor:innen der Buchstabenwerkstatt. Jetzt lasen sie im ZweitLOF.FT. Besonders beeindruckt waren die 35 Zuhörer:innen von den Steckbriefen, die von den Teilnehmer:innen verfasst und von Johann Kneißl vorgetragen wurden. „Unglaublich, was diese Menschen drauf haben“, sagte spontan ein promovierter Lebensmittelchemiker aus dem Publikum. Auch ich war beeindruckt, als mich die Steckbriefe per Mails erreichten und umso gerührter, als ich damit die Autor:innen im ZweitLOF.FT in ihre Lesung einführen durfte. Unter ihnen waren eine Professorin für Wirtschaftswissenschaften, eine Juristin im Bereich der Kriminologie, eine Hotel- und Gastronomiefachfrau, die in der Frankfurter Franziskustreff Stiftung an der Liebfrauenkirche bedürftige Menschen mit Essen unterstützt, ein Apotheker, eine Politikwissenschaftlerin und eine Lehrerin, die in Ankara Didaktik der deutschen Sprache studierte und jetzt als herkunftssprachliche Lehrerin in Frankfurter Schulen arbeitet.

Bobbel Jacobs, Grafik Designerin und Weinhändlerin, führte als Mitbetreiberin des ZweitLOF.FT in die Veranstaltung ein. Sie war es, die vor dem aktuellen politischen Hintergrund nach Empfehlung der Offenbacher Autorin Ingrid Walter die Lesung in den Möglichkeitsraum holte und kräftig die Werbetrommel rührte. Sie fand mit ihrer Eröffnungsrede auch die richtigen Worte und sorgte mit Imbiss und Getränken auch für die nötige Stärkung in der Pause zwischen zwei 45minütigen Lesesets. Vor diesem Hintergrund konnten auch die Autor:innen aus dem vollen Schöpfen und mit Herzblut ihre Texte vortragen. Glücklich war diesmal auch unser Gitarrenvirtuose Pit Uferstein, der in Frankfurt nur kleine Musikhäppchen in die Lesetexte einstreuen und jetzt nach den Leseabschnitten seine Stücke richtig ausspielen konnte. Das Ergebnis war ein gelungenes Zusammenspiel von Literatur um Musik. Pit Uferstein ist zudem ein aufmerksamer Zuhörer und besitzt die Fähigkeit, ausgehend von den Texten spontan Eigenkompositionen zu entwickeln und schafft es darüber hinaus, mit Herzblut alles aus seinen beiden Gitarren herauszuholen. Seit nunmehr 10 Jahren begleitet er mich als Autor und mit mir schreibende Kolleg:innen bei Lesungen mit seiner Tonkunst. „Man könnte eine Nadel fallen hören, so konzentriert lauschen die Menschen seiner Musik“, äußerte nach der Veranstaltung ein Teilnehmer aus den hinteren Reihen.

Die halbstündige Pause nutzten die Gäste der Lesung für Gespräche mit den Autor:innen. Darauf waren die Textkünstler:innen besonders stolz. Stolz darauf, über ihre Geschichten sprechen zu können und stolz darauf, als Lerner:innen der deutschen Sprache mit Muttersprachler:innen ihre erworbenen Sprachkenntnisse ausprobieren zu können. Im Nachgang der Lesung ist ein gemeinsames Essen im Café Navale am Offenbacher Hafenplatz geplant.
Lesen Sie auch die Blogbeiträge „Gespräche mit dem Kater“ (7.04.2023) und „Die Buchstabenwerkstatt las beim Frankfurter Paulskirchenfest“ (15.06.2023).
Zu Leseproben der Buchstabenwerkstätten gelangen Sie hier: Werkstatthefte 1-3